Das Selbstmordgeschehen
in der DDR blieb immer ein unaufgearbeitetes gesellschaftliches
Phänomen. Selbst in den 70-iger und 80-iger Jahren, in denen
sich die DDR-Wissenschaften freimütiger als in der Vergangenheit
der Lösung der eigenen gesellschaftlichen Widersprüche
zuwenden konnten, blieb hinsichtlich des Selbstmordproblems die
aufgezwungene Zurückhaltung weitgehend bestehen.
Auch die Tatsache, dass zum Ausschluss eines
Verbrechens jährlich etwa 3700 Selbstmordfälle kriminalpolizeilich
untersucht werden mussten, blieb der Öffentlichkeit verborgen.
Die Zahlen für versuchte, misslungene
Selbstmorde wird auf das fünfzehnfache der vollendeten geschätzt.
Die starre Linie der SED-Führung, die
Erkenntnisse über das Selbstmordgeschehen nicht publik werden
lassen, hat vermutlich zwei Gründe:
1.
Selbstmorde berühren unmittelbar wichtige
philosophische und ethische Fragen des Lebens und des Todes, auf
die die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften
nur unbefriedigende Antworten parat hatten. Das Bewusstsein des
sozialistischen Menschen über sich selbst und die Welt -
so vereinfachten sie - vermittele ihm einen solchen inneren Halt,
dass schwierige Konfliktsituationen des Lebens anders überstehbar
seien als ohne gefestigte marxistisch-leninistische Weltanschauung.
2.
Die im Vergleich zur Bundsrepublik geringfügig
höheren Belastungsziffern in der DDR führten zu einer
ideologischen Peinlichkeit, denn die Vorzüge ließen
sich am Beispiel der Selbstmordrate nicht demonstrieren.
Im Zeitraum von 1968 bis 1988 betrug die
auf 100 000 DDR-Einwohner bezogene Belastungsziffer 23 Selbstmorde
pro Jahr.
In der Bundesrepublik wurden jährlich
pro 100 00 Einwohner 21 Selbstmorde verübt.
Aber: Die DDR-Zahlen sind zwangsläufig
deshalb höher, weil mehr Selbstmorde aufgedeckt wurden.
Eine vorbildlich geregelte Leichenschauanordnung,
die gerichtsmedizinische Leichenöffnungspraxis (im Vergleich
zur Bundesrepublik wurden wesentlich mehr Autopsien vorgenommen)
und eine hohe Qualität der kriminalistischen Untersuchung
gewährleisteten, das Dunkelfeld auf ein sehr geringes Niveau
zu begrenzen.
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